Ich hatte immer das Gefühl, dass irgendwas nicht ganz stimmt. Ungerecht ist. Ich konnte das ganz schlecht in Worte fassen. Lasst mich dazu eine kurze Geschichte erzählen:
Ich musste für die 11. Klasse aus der Realschule auf Gymnasium wechseln: Neue Leute, neue Gruppen. Ich hatte Schwierigkeiten „rein“ zu kommen, irgendwie kannten sich alle Anderen eben schon sehr gut und ich war halt „neu“.
Meinem Kumpel aus derselben Realschulklasse, der auch wechselte, fiel das viel leichter: er fand schneller Anschluss. Die Jungs nahmen ihn schnell in ihre Runden auf und die Mädels fanden ihn auch cool.
Im Abijahr (also nach 3 Jahren) kam es dann vermehrt zu Feiern und gemeinsamen Treffen zum Lernen. Es kam zwangsweise zu mehr Kontakt – und zu etwas was mich völlig verwirrte: Ganz viele meiner Schulkamerad:innen kamen (so nach 1 bis 2 Bier) zu mir und meinten: „Mensch, du bist ja gar nicht so arrogant wie ich immer dachte!“.
Was vielleicht nett gemeint war, hat mich lange verfolgt: Was mache ich bloß falsch? Sollte ich besser immer lächeln? Soll ich immer fröhlich sein? Es war so schade, dass ich so lange keinen Anschluss fand — das wollte ich in Zukunft verhindern. Es ist mir aber nie gelungen: Diese Erfahrung ist mir immer wieder begegnet.
Mein Gefühl war, dass das bei Jungs anders ist – aber es war eben nur ein Gefühl. Nichts was ich irgendwie greifen konnte. Und letztendlich: Liegt es nicht doch an mir? An mir konnte ich auch schneller etwas „anpassen“, netter sein, mehr lächeln. Offene Körpersprache und so. Ich hab mir viele Gedanken gemacht, wie ich „positiver” oder mindestens „neutraler” wahrgenommen werden kann – und gleichzeitig auch ernst genommen werde.
Bis ich von einer Studie las, in der Studierenden einen exakt gleichen erfolgreichen Lebenslauf gezeigt wurde – mit dem einzigen Unterschied, dass es einmal eine Frau sein sollte und einmal ein Mann. Karriereschritte, Studium, Position, Hobbys – alles das Gleiche. Die Studierenden sollten dann eine Einschätzung der beiden Personen geben:
Männliche sowie weibliche Studierende haben die weibliche Führungskraft als unsympathischer und anstrengender beschrieben („verbissen“). Den Mann beschrieben sie als ganz cool und kompetent – mit dem würde man gerne mal ein Bierchen trinken oder für ihn arbeiten.
Die Studie, von der ich damals gelesen habe, finde ich leider nicht mehr im Netz – aber eine ähnliche, die von Bewerbungsschreiben erzählt gibt es hier. Diese Studie hat mir gezeigt: Es ist nicht nur ein Gefühl. Es ist Wirklichkeit. Es liegt nicht an mir. Es ist in der Struktur.
Natürlich kann und muss ich nicht allen gefallen – aber es ist eben schon gut zu wissen: einen neutralen Start haben Frauen nicht. Sie werden mit einem anderen Maß gemessen. Das macht es anstrengender im Alltag.
Wir leben in einer Welt, in der Frauen anders beurteilt werden als Männer.
Mir hat das geholfen, auch meine Einschätzungen von anderen Frauen zu hinterfragen. Mich selbst der Frage zu stellen: Würde ich das Gleiche denken, wenn vor mir ein Mann stehen würde?
Zahlen sind wichtig, um Betroffenen ein Bewusstsein zu geben: Du bist nicht allein.
Zählbare Einzelfälle
Eine Erfahrung ist erst mal ein Einzelfall. Je nachdem, ob ich in meinem Umfeld Menschen mit ähnlicher Erfahrung habe, kann ich merken, ob meine Erfahrung etwas ist, was nur mir so geht oder auch anderen. Im schlimmsten Fall gibt es in meinem Umfeld niemanden, der:die diese Erfahrung teilt. Dann denke ich: Ich bin allein. Es liegt an mir.
Durch eine Zählung können wir feststellen: Ist das tatsächlich so?
Aber nicht nur das. Sie können auch andere gefühlte Wahrheiten aufdecken. Ich kenne zum Beispiel einige Frauen in Führungspositionen. Ich könnte also daraus schließen: Wir sind da doch schon recht weit, es gibt doch einige! Die Zahlen zeigen mir dann aber: Nein, das ist nur mein Umfeld, meine Bubble, in der Gesellschaft sieht es noch anders aus.
Solange wir nicht über unsere Bubble hinaus schauen, werden wir nur über Gefühle reden können. Und ich bin es leid, Gefühle zu diskutieren. Ich will Zahlen sehen.
Jede Erfahrung einer:s Einzelnen ist ein Einzelfall. Wenn wir diese Einzelfälle zählen können, sehen wir, ob wir ein Problem in der Struktur haben. Auch in unserer Branche. Und wie sieht es da aus?
Wie sieht es denn da bei uns so aus?
Ich dachte eigentlich immer, es ist ganz ok. Aber am Ende fühlt es sich doch nicht so an. Bekannte Designer:innen sind (gefühlt) mehr Männer, es gibt (gefühlt) mehr Männer, die große Designstudios leiten. Oder? Aber den Kleinkram machen (gefühlt) vor allem Frauen. Kann das sein? Ist das ein Gefühl oder stimmt das?
Unsere Branche ist von Sexismus nicht ausgenommen – wie sollte sie auch. Wir sind ja alle in diesen gesellschaftlichen Strukturen aufgewachsen. Sobald eine Frau Erfolg hat, wird schnell ihre Berechtigung hinterfragt. Ich weiß noch als Jessica Walsh bei Stefan Sagmeister einstieg. Mein Kollege meinte: „Ach, die schläft doch mit dem!“ Ich war völlig baff. Und hab gegoogelt. Ist natürlich BULLS**T. Kann das echt wahr sein, dass wir Frauen sofort absprechen, etwas durch Können zu schaffen? Hätten wir dasselbe getan, wenn es John Walsh und Sagmeister gewesen wären? Ich bin mir sicher: Nein.
Unsere Branche ist also nicht unverschont – also lasst uns das doch mal genauer ansehen.
Designpreise – wie fair sind die wohl so?
Awards haben in der Designbranche einen hohen Stellenwert. Für viele sind sie eine wichtige Form der Bestätigung der Arbeit. Auch weil der Beruf Designer:in keinem einheitlichen Abschluss unterliegt. Awards erfüllen die Funktion eines Gütesiegels, steigern den Marktwert der Trägerin, des Trägers und des ausgezeichneten Produktes – und dienen so den Unternehmen als Marketinginstrument.
Ein Award zeichnet aber nicht nur die Preisträgerinnen und -träger aus, sondern auch die Personen, die sie vergeben dürfen. Teil einer Jury zu sein, ist ein Beweis für hohe Expertise und geht natürlich mit einer großen Verantwortung einher. Wer die Gewinner:innen auswählt und mitbestimmt, zeigt, was wichtig ist und Aufmerksamkeit bekommt. Jede:s Jurymitglied bringt ihre:seine Perspektive mit in die Runde der Jury. Und da ist es wichtig, auch die Perspektive von Frauen zu haben.
Tatsächlich ist schon in anderen Branchen gezeigt worden, dass Jurys mit ausgeglichenem Anteil an Männern und Frauen, Preise/Awards geschlechtergerechter vergeben. (Am Beispiel des Bachmann-Preis, Preis der Leipziger Buchmesse, Deutscher Buchpreis1
„(…) männliche Erfahrungen und Perspektiven werden als universell angesehen, während weibliche Erfahrungen – also Erfahrungen der Hälfte der Weltbevölkerung – als Randerscheinung wahrgenommen werden.“
Caroline Criado-Perez in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen – Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“
71% Männer zu 29% Frauen
Im Rat für Geschlechtergerechtigkeit im Deutschen Designtag – haben wir hier genauer hingesehen2: und in der Saison 2019/2020 waren es 71% Männer und 29% Frauen in den Jurys. Das ist nicht ausreichend, daher hat der Deutsche Designtag einen Appell3 an Ausrichter:innen von Design Wettbewerben gerichtet.
Die Großen der Branche enttäuschen
Die Jury-Vorsitzenden des ADC 2019 schaffen leider ein wenig erfreuliches Bild. Es kommen auf 21 Männer lediglich drei Frauen. Im Jahr 2020 haben wir das nochmal genauer betrachtet und jede einzelne Jury gezählt – zwar sind es zwei Chairwomen in diesem Jahr – trotzdem ergibt sich im Durchschnitt ein trauriges, einseitiges Bild. Während die Größe der Jury recht streng befolgt wird (es sind immer 15 Personen), sind in den Jurys maximal 5 Frauen zu 10 Männern zu finden – meist jedoch nur 2 Frauen und 13 Männer. Das ist schon eine sehr verbesserungswürdige Aufstellung. Insgesamt sind in der ADC Jury 313 Männer und nur 76 Frauen (2020).
Red-Dot-Award: Ein wichtiger Award – besonders für Produktdesigner:innen – der auch außerhalb der Designszene Aufmerksamkeit erhält. Ein Produkt mit dem Red-Dot-Award-Logo auf der Verpackung erfährt automatisch eine Aufwertung. Weniger vorbildlich ist die Besetzung der Jurys. Für Produktdesign kamen 2019 nur 6 Frauen auf 34 Männer, 2020 sind es 4 Frauen und 32 Männer. In den anderen Kategorien sieht es ähnlich aus: für Brands & Communication Design sitzen 6 Frauen und 18 Männer in der Jury, für Design Concept gerade mal noch 2 Frauen und 19 Männer.
Größen von Jurys
Wenn wir uns die prozentualen Verhältnisse ansehen, müssen die verschiedenen Größen der Jurys immer mitbedacht werden: Es gibt kleine Jurys mit vier oder fünf Personen und es gibt große Jurys mit bis zu 210 Jury-Mitgliedern.
Beispielsweise kann das Verhältnis 60% zu 40% hier sehr unterschiedliche Zahlen zeigen. Eine Fünf-Personen-Jury mit drei Männern und zwei Frauen sind im nächsten Jahr vielleicht wieder drei Frauen und zwei Männer – das geht schnell und ist unproblematisch. Bei größeren Jurys ist ein 60%-zu-40%-Verhältnis deutlich dramatischer, z.B. 99 Männer zu 65 Frauen. Dieses Ungleichgewicht lässt sich deutlich schlechter „schnell mal“ austauschen.
Buchpreise sind vorbildlich
Die Disziplin Buchpreis fällt durch die gute Mischung der Jury positiv auf (mit Ausnahme des ADCs, wie weiter unten beschrieben). Bei Buchpreisen gibt es öfter sogar einen leichten Überhang an Frauen (z. B. „Die schönsten deutschen Bücher“ in 2019: Männer: 8, Frauen: 11). Anzumerken ist, dass die Jurys in dieser Disziplin recht kleine Gruppen sind: Die größte Jury hat 19 Mitglieder, alle anderen sind meist unter 10 Personen.
Nicht nur Frauen
Ich bin ehrlich: Ich hätte gerne noch mehr Zahlen. Aber es ist schwierig an Zahlen heranzukommen. Jurys zu zählen, war eine „low-hanging-fruit“. Die Namen der Jurys stehen meist auf der Webseite des Wettbewerbs, so mussten wir niemanden fragen und auf Rückmeldung warten. Allerdings ist bei dem Prozess natürlich auch ein Vorurteil vorprogrammiert: Wir können nur anhand des Namens entscheiden, ob wir die Person als weiblich oder männlich lesen. Also bleiben wir dadurch leider sehr binär und beachten nicht die Vielfalt an Geschlechtsidentitäten, die es gibt.
Dabei ist natürlich nicht nur die Frauenquote interessant, sondern auch das Verhältnis von People of Color, Schwarzen und weißen Menschen, der Migrationshintergrund, LGBTQI+ oder auch Menschen, die mit Behinderungen leben. Leider lässt sich das deutlich schlechter von außen beobachten. Diese Beobachtung müsste vermutlich durch Fragebögen und eigene interne Beurteilung der Ausrichtenden passieren.
„Die Vorstellung der Welt ist, wie die Welt selbst, das Produkt der Männer: Sie beschreiben sie von ihrem Standpunkt aus, den sie mit dem der absoluten Wahrheit gleichsetzen.“
Simone de Beauvoir
Warum ist Diversität so wichtig?
Es ist einfach wichtig, verschiedene Perspektiven mit in eine Entscheidungsrunde hineinzugeben – nur so können wir sicher gehen, dass möglichst viele Lebensrealitäten wiedergegeben werden. Und nur so können Awards vergeben werden, die auch wirklich der Welt entsprechen, in der wir uns befinden.
P.S. 317 – Was ist denn das für ein Code? Es ist aktuell meine emotionalste Zahl: Der Tag, an dem ich Mutter wurde.
Fußnoten / Anmerkungen
- Aufgerufen am 08. April 2022 http://www.frauenzählen.de/preisverleihungen/literaturpreise.html
- https://studiedesignjurys.designtag.org/
- www.designtag.org/2021/03/appell-an-die-ausrichter-von-design-awards-jurys-geschlechterparitaetisch-besetzen/
Kommentare
Danke! Wie unglaublich gut dieser Beitrag für mich ist. Gerade jetzt! Denn ich bin als Designerin in einer Männerwelt tätig. Der Holzbearbeitungmaschinenbranche 🙂
Da habe ich inzwischen eine gigantische Sammlung zusammen, die dieses „Gefühl“ und die Studien absolut bestätigen! Und gerade jetzt gab es wieder Vorfälle. Eine Freundin hat mir dazu schonmal einen Artikel geschickt.
Es ist schon Wohltat, zu wissen, damit nicht alleine zu sein. Vielen Dank für diesen wertvollen Beitrag!
Das freut mich/uns wirklich sehr zu hören. Genau für dich ist das geschrieben. Die Holzbearbeitungsmaschinenbranche (wow, deutsch ist so eine unfassliche Sprache manchmal) kenne ich zwar selbst nicht, kann mir aber vorstellen, dass es dort nicht ganz so einfach ist. Auch so ein Gefühl 😉
Vielen Dank für den tollen Artikel. Zahlen geben eben Klarheit.
Ein weiteres bezeichnendes Beispiel ist die klassische Musik. Ich habe mal nachgezählt, wie viele Werke von Frauen das Philharmonische Staatsorchester Mainz von 2006 bis 2016 aufgeführt hat. (Die Programmhefte hatte ich zur Vorlage) Es war erschreckend. Ganze 10 Werke waren es. In 10 Jahren. Und das nehmen wir als normal bzw. als selbstverständlich hin.
Ja, das klingt (!) nicht so doll. Da gibt es glaub ich auch Zahlen zu wie viele Komponist:innen es überhaupt gibt/gab, die da „oben“ mitspielen. Was mich beeindruckt hat: Die Orchester haben das Hinter-dem-Vorhang-Vorspielen entwickelt und siehe da: Viel mehr Frauen eingestellt, als vorher! Das hab ich aus dieser Studie vom Kulturrat: https://www.kulturrat.de/publikationen/frauen-in-kultur-und-medien/