Dasselbe in Grün – Farbenblind als Designer

Simon Wehr 30. Juni 2021

Der Lockdown, Coronazeit Unendlich-Komma-Fünf auf dem Sofa … Jetzt mal kurz raus in die Natur! Wie steht die Corona-Ampel? Vielleicht in diese romantische Waldhütte. Oder in das Tiny-House an der Küste …

Check die Website, der Buchungskalender zeigt dir, welche Tage noch frei sind. Und stell dir nun vor, der Kalender ist so gestaltet, dass du nicht sehen kannst, an welchen Tagen die Hütte frei ist, und an welchen nicht. – Würde ja niemand tun, das wäre doch Quatsch?

Buchungskalender, der mit Blautönen zwischen gebucht und frei unterscheiden soll. Da es keine Legende gibt, ist dieser Kalender unbenutzbar.
Mit diesem Buchungskalender kann kaum jemand etwas anfangen, richtig?

Verehrte Kolleg:innen, ihr macht das regelmäßig, immer wieder und eigentlich ohne Not. Und ich kann dann meinen Urlaub nicht buchen, na, toll! Ihr glaubt mir nicht? Dann lest mit mir …

Die Ampel als gemeinsame Vereinbarung

Wir haben uns alle darauf geeinigt, dass Ampeln eine feine Sache sind. Bei Rot stehen, bei Grün gehen. Ich weiß nicht, wann diese Farben zum Konsens wurden, aber sie sind im Prinzip international akzeptiert:

Grün = gut/frei/erlaubt
Rot = schlecht/belegt/verboten

Kennt jemand Kulturen oder Zeiten, in denen das anders war oder ist? Ab in die Kommentare damit!
(Nein, Göttingen gilt nicht!)

Also Rot und Grün. Die Farben haben starken Kontrast, können gut leuchten und in unserem Auge haben wir sogar auf der Netzhaut extra Rezeptoren für diese Farben, die Zapfen, auf die komme ich noch.

Was schon schwieriger wird: Welches Grün ist Du-darfst-gehen-Grün, welches Rot ist Hier-gehts-nicht-rein-Rot? Das Grün französischer Verkehrsampeln ist so eher türkis, aber Grün im weiteren Sinne ist es schon noch. Und abseits der Verkehrsführung kommen Grün und Rot ständig als Signal zum Einsatz. Elektrogerät, Toilettentür, Corona-Ampel, NutriScore, … es müssen schon Farben sein, die jede:r als »Grün« und »Rot« akzeptiert.

Wie wäre es zum Beispiel mit diesen beiden? (Spoiler: Nicht so gut.)

Viele, viele graue Smarties?

Wir reden oft davon, dass jemand „Farbenblind“ wäre. In den seltensten Fällen ist die betroffene Person wirklich von der Achromatopsie betroffen. Diese Menschen haben in der Regel viel weiter reichende Einschränkungen: Extreme Tegeslichtempfindlichkeit, stark verminderte Sehschärfe und gar keine Farbwahrnehmung. Das sind in Deutschland ca. 3 000 Patienten.1

— Und kurz als Zwischenruf: Wir sind hier kein Medizinblog. Wer Details und präzise Fakten will, wende sich vertrauensvoll an die Fachliteratur. Für das Alltagsverständnis einer Designer:in soll das Prinzip klar werden, mehr will ich hier nicht. —

Während die Stäbchen in der Netzhaut unseres Auges die Helligkeit wahrnehmen, sind die Zapfen für die Farbwahrnehmung zuständig. Wir haben Zapfen für Rot, Grün und Blau. Bei einer Person mit Farbsehschwäche weisen die Zapfen eine Anomalie auf. In der Regel sind die Zapfen für Rot oder Grün nicht voll funktionsfähig. Fachleute sprechen bei Grünschwäche von Deuteranomalie, bei der kompletten Grünblindheit von Deuteranopie, für die Rotzapfen entsprechend Protanomalie bzw. Protanopie. Das schreibe ich nicht, um mit meinem angelesenen Wissen zu prahlen, wir brauchen die Vokabeln noch. (Blau ist übrigens fast nie betroffen.)

Also: Wer „farbenblind“ ist, hat in der Regel nur eine Farbsehschwäche, merkt euch das! Der Betroffene hat in den Augen eine Fehlfunktion, er sieht Grün oder Rot schwächer.

Er, der Betroffene? Ja, ab diesem Punkt könnte ich eigentlich mit dem Gendern aufhören, denn diese Störung wird  x-chromosomal rezessiv vererbt. Na, in Bio in der Schule auch geschlafen? Das bedeutet, wer nur über ein einzelnes X-Chromosom verfügt, ist viel häufiger davon betroffen, dass diese Veranlagung zu spüren ist. In der Tat sind lediglich ein halbes bis ein Prozent der Frauen von dieser Fehlsichtigkeit betroffen. Bei den Männern sind es acht bis neun Prozent, also gar nicht mal so wenige.2

Und ich bin einer davon.

Als Diplom-Designer ist das keine Eigenschaft, die man seinen Auftraggeber:innen aktiv aufs Auge drückt, aber ich kenne noch mehr betroffene Kollegen, also keine Bange. (Dafür habe ich gelernt, HEX-Werte zu lesen und kann besser im Dunkeln sehen.)

Ich sehe meine Welt in meinen Farben

Da ich mit meinem persönlichen Farbempfinden geboren wurde, wäre es mir eigentlich gar nicht aufgefallen. Aber meine Eltern kannten die Familie und haben mir das seit meiner Kindheit beigebracht. Es gab Momente, in denen ich mich wunderte, warum die Kirschbäume im Sommer „total rot“ sein sollten; für mich sind die grün, weil die grünen Blätter wesentlich stärker zu sehen sind, als die roten Punkte, sprich Kirschen. Auch beim Feuerwerk oder bei Tafelkreide fällt mir auf, dass Grün und Gelb für mich in speziellen Situationen(!) schlecht(er) unterscheidbar sind. Habt ihr die Unendliche Geschichte gelesen? Ein wunderbares Werk, das fieser Weise in Rot und Grün gedruckt ist. Ich habe mich über die miese Qualität gewundert, weil mein Buch in zwei Grautönen gedruckt war. (Bis mir jemand den Sachverhalt erklärt hat, ab da konnte ich die Farben sehen und zuordnen. Man sieht eben auch, was man weiß.)

Und diese Punktebilder? Die heißen Ishihara-Tafeln und ich halte sie für eine Verschwörung der Unterwelt. Ähnlich wie bei der Truman-Show haben sich alle hinter meinem Rücken abgesprochen, welche Zahlen sie angeblich sehen, wo sich mir ein lustiger Konfettiregen mit vereinzelt ganz anderen Zahlen auftut, die angeblich „falsch“ wären. Also ob man etwas falsch sehen könnte! (Aber das wäre ein anderer Artikel.) C’mon, das sind doch bloß Ausschnitte aus einem Quint-Buchholz-Bild.

So, hier, nehmt DAS!

Eine Ishihara-Testtafel: Kreisform mit verschiedenen roten und grünen Punkten in vielen Größen. Nur sind die Punkte so angeordnet, dass auch voll farbsehende keinen Sinn darin erkennen können.
Ja, SO fühlt sich ein Ishihara-Test für Menschen mit Farbsehschwäche an.

Ihr seht, meine ganz persönliche Deuteranomalie also Grünschwäche lässt mich im Alltag recht kalt. Grün-Gelb, Grün-Orange, Grün-Rot, da habe ich andere Wahrnehmungen als meine Umwelt, das merke ich ab und zu, das merken meine Mitmenschen in der Regel gar nicht. Bei Ampeln ist ja immer das obere Licht rot und das untere grün, ihr könnt also beruhigt zu mir aufs Tandem steigen. Außerdem sehe ich die wirklich als Grün und Rot, nicht nur weil ich ja weiß, dass sie grün und rot sind.

Es gibt aber einen Punkt, an dem ich regelmäßig wütend werde: Buchungskalender!

Diese kleinen, dicht gedrängten Farbkästchen mit Primär-Grün-Rot-Mosaik. Himmel, da kann mir keiner erzählen, ihr könntet die unterscheiden, ich glaube euch das nicht. Diese fisselig-kleinen Farbfeldchen mit ähnlicher Helligkeit sind im Prinzip ein Ishihara-Test aus dem ich dann sehen soll, wann die Waldhütte frei ist und wann nicht. Und das, liebe Kolleg:innen, ist ein Designfehler.

Ein simulierter Buchungskalender mit roten und grünen und grauen Feldern, die belegt, frei und nicht verfügbar anzeigen.
Für mich beinahe so nutzlos, wie die Version oben. Die kleinen roten und grünen Felder sind zu schwer zu unterscheiden.

Zeig mir deine Welt Wie kann ich mir das vorstellen?

Ihr könnt die Welt nun mal nicht mit meinen Augen sehen. Die Smarties sind nicht grau, nur eben nicht so bunt.

Foto ohne weitere Bearbeitung 3
So in etwa freut sich ein Grünblinder (Deuteranopie) auf die Süßigkeit: 
So jemand, der Rotblind (Protanopie) ist: 

Das Schöne ist: Im Gegensatz zu Gummibärchen schmecken Smarties alle gleich, mir ist also egal, welche Farbe ich mir in den Mund stecke.

Und die Ishihara-Tafel sieht in etwa so aus, nur mal zur Vorstellung:

Drei Ishihara-Testbilder nebeneinander: Das Originalbild, mit simulierter Deuteranopie und simulierter Protanopie.
Links das Original, daneben simulierte Wahrnehmung mit Grün- und Rot-Blindheit

Die Lösung ist nicht so schwer

Zum Glück gibt es in Photoshop und Illustrator die Farbproof-Einstellungen für Deuteranopie und Protanopie (warum InDesign diese Funktion nicht hat, weiß der Himmel). Das solltet ihr kennen, wenn ihr Farben mit informativem Zweck einsetzt, sei es für ein Gesellschaftsspiel, einen Buchungskalender, jedwede Form von Infografik, ein User Interface, … Es empfiehlt sich, wenigstens diese groben Ansichten zu testen.

Und es gibt noch mehr Tools, die Farbsehschwäche simulieren und beim Testen helfen. Manche sind schon deutlich in die Jahre gekommen, aber das soll uns an dieser Stelle nicht weiter stören. Hier ist jetzt nicht der Ort, jedes einzeln vorzustellen, schaut einfach selber mal rein:

Stark

Color Oracle

Sim Daltonism App (Apple AppStore)

Coblis — Color Blindness Simulator

Und noch ein Tipp: Wenn ihr mal ein Brettspiel gestaltet, lasst doch entweder grün oder rot als Spielfiguren einfach weg. Meine Brüder und ich werden es euch danken!

Doch ich will euch die Farben ja gar nicht wegnehmen. Zum einen hilft es schon enorm, wenn die Farben einfach einen deutlichen Helligkeitsunterschied haben: Wenn eine Farbcodierung in Graustufen funktioniert, dann sollte sie auch für Farbschwache erkennbar sein.

Gerade kleine und feine Farbflächen sind schwer zu unterscheiden, daher fällt das Lesen der Ishihara-Tafeln auch so schwer. Das heißt für Designer:innen: Nicht mit roten und grünen Linien arbeiten. Nicht mit kleinen Farbkästchen für Wochentage im Kalender, nicht mit Punkten die nebeneinander oder gar durcheinander stehen.

Zum anderen lassen sich Codierungen mit Hilfe von Icons oder Mustern oder Buchstaben ergänzen. So wäre der Buchungskalender schon deutlich besser für Menschen nutzbar, die Farben nicht klar differenzieren können:

Ein Buchungskalender mit Tagesfeldern, die mit Kreuzen und Rändern so gekennzeichnet sind, dass die Farben ein Zusatzmerkmal sind und nicht alleine stehen müssen.
Hier würde man auch ohne Farben verstehen, wann frei ist und wann belegt. (Eine Legende gehört trotzdem dazu!)

Das darf auch gerne gut aussehen. Trello zum Beispiel löst das auf sehr elegante Art und Weise.

Trello kann mitunter sehr farbenfroh werden …
Im Bereich Labels bearbeiten kann sich jede:r in seiner eigenen Ansicht die Option „Benutzerfreundlichen Modus für Farbenblinde“ aktivieren.

Und generell ist es für viele Menschen hilfreich, einen gewissen Kontrast anzubieten. Im Übrigen freuen sich auch Menschen ohne Farbsehschwäche über Klarheit und Prägnanz. Inklusive Gestaltung hat ja zum Ziel, dass sie für alle gemeinsam gut aussieht und funktioniert. Wenn das geht, sollten wir das auch anwenden.

Fazit

Es ist also gar nicht so schwer, farbgerecht zu gestalten. Wir Designer:innen müssen jedoch um die Thematik wissen und Lösungen anbieten. Und im Zweifel einfach mal ein paar Männer fragen, ob sie die Farben gut sehen können. Gerade im Rot- und Grünbereich.

Dieser ganze Lockdown beschert mir langsam einen Hüttenkoller, ich muss mal raus aus der kleinen Wohnung. Wo ist denn noch was frei, vielleicht in dieser romantischen, kleinen Waldhütte?

Fußnoten / Anmerkungen

  1. Pressemeldung der LMU München, Aufgerufen am 30.06.2021
  2. Wikipedia, Aufgerufen am 30.06.2021
  3. Photo by Hello I’m Nik on Unsplash

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